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KAPITEL

1. Jura Soyfer: Das Dachaulied
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2. Theodor Kramer: Der Ofen von Lublin (22.8. 1944)
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3. Fred Wander: Der Siebente Brunnen. Erzählung
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4. Fred Wander: Gesichter (Kap. XI). In: Der siebente Brunnen. Erzählung (1972)
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5. Anhang
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Herbert Staud:
Holocaust und Literatur

Fred Wander: Der Siebente Brunnen. Erzählung


In der Folge gibt der Erzähler verschiedene Erzählungen aus dem Munde des Mithäftlings Meir Bernstein wieder. Wie so oft in Fred Wanders Text tritt dabei der Ich-Erzähler hinter die Geschichtenerzähler, die Wander in seinem Buch zu Wort kommen lässt, in diesem Fall hinter Meir Bernstein, zurück. Der Ich-Erzähler findet sich so in den Erzählungen der Mithäftlinge wie Meir Bernstein und Mendel Teichmann wieder.
Lesen Sie dazu eine Geschichte von Meir Bernstein, die Wander wiedergibt:

"Und Meir erzählt mit kunstvollen Ausschmückungen, beinahe so gut wie Mendel Teichmann, und andere, die seit Jahrhunderten verfolgt sind und daher im Worte leben. Hert miach aus, pflegt Meir Bernstein zu beginnen, well iach ach vazehln a Mansze ... will ich euch eine Geschichte erzählen: Is gewesen Schabbes, und hobn alle gewusst, as Schabbes im Haus des Meir Bernstein is a Jom-tew, ein heiliges Fest. Zwar is Meir Bernstein nicht gewesen einer von jene Jidden, was habn erfüllt die Gebote des Talmud buchstabengetreu. Gottgläubig ja, aber nicht buchstabengläubig! Weil Gott lebt in mir und in dir und in jedem Strauch, und ist größer als der Buchstabe, und auch ich bin also größer als der Buchstabe. Aber Schabbes is Schabbes. Wird kein Licht angezünd von eigener Hand, Wagen und Pferd bleiben im Stall. Kommt doch Freitag zü Nacht ein Pauer vorbei, ein Christ. Kein schlechter Mensch, aber hat schon getrunken und will mir beweisen - ich soll sein ein Meschumed und gar kein Jid! Sagt er zu mir: Nimm Pferd und Wagen, Meir, sagt er, und komm mit mir. Draußen das Wehr ist geschlossen, hält kaum noch den angeschwollenen Bach, machst du nicht die Schraube locker, überschwemmt es dir den Grund. Ich geh hinaus, den Knecht zu holen. Aber der Knecht liegt im Stroh, voll mit Schnaps. Ich spann das Pferd vor den Wagen und fahr hinaus. Haben Unwürdige dem Knecht Spiritus gegeben und das Wehr zugedreht. Ich öffne es mit meinen Händen, der Goj schaut zu, wundert sich, dass ich ihn nicht bitte, es für mich zu tun. Und als wir durchs Dorf fahren, sagt er, komm herein zu einem Trunk. Nun, hat er doch verdient einen Trunk, weil er hat mich gerufen! Die Kneipe ist voll von Pauern und vom Schnapsgestank. Einige schreien, hauen auf den Tisch und singen unanständige Lieder. Nu, sagt der Pauer, was hab ich euch gesagt? Er weist auf mich, und sie lachen. Bieten mir Pflaumenschnaps und trefegiges Fleisch. Ich trinke, das Fleisch aber rühr ich nicht an. Sagt einer von die Gojim, hast das Pferd angeschirrt, Meir, den Wagen gefahren am Schabbes, kannst du auch trefe essen! Sie lachen und wischen sich die nassen Gesichter ab. Ich bleibe ernst. Schabbes - heunt? Muss sein ein Irrtum, Gevatter. Morgen ist Schabbes. Wer kommt zu Meir Bernstein, ihn zum Narren machen, muss sein vun gestern! - Holen sie den Wirt, ein junger Mensch, fragen ihn, was ist heunt für ein Tag, Schabbes oder nicht? Der Wirt, dem ich bezahlt hab tausend Zloty, man soll nicht kumen und ihm pfänden Tisch und Bänk und die Pferde, er schaut auf die Pauern, dann schaut er mir ins Gesicht. Nein, sagt er, heunt ist nicht Schabbes, morgen, wenn Gott will, wird Schabbes sein. Die Pauern lachen und schreien. Draußen geht der Gallach vorbei, der katholische Pfarrer. Rufen sie ihn, erzählen, was geschehen ist, prüfen auch ihn. Der Gallach schaut in ihre Gesichter, die nass sind und rot, die Augen trüb vom Trinken. Da schüttelt er den Kopf: Wenn Meir Bernstein hat das Kummet angefasst und am Wehr gedreht, kann nicht sein Sabbat, Meir hat recht!" (Wander 1994, 38 f.)

Worterklärungen:
Schabbes - Sabbat
Talmud - hebr.: Belehrung. Umfassendes Literaturwerk, in dem Zivil- und Strafrecht wie auch Kultvorschriften dargelegt sind
Meschumed - Abtrünniger; Schimpfwort
Goj (Mehrz. Gojim) - Nichtjuden
trefegiges Fleisch - trefe, auch trejfe; unreines Fleisch, das nicht unter Beachtung der rituellen Vorschriften beim Schlachten der Tiere behandelt wurde, darf nicht gegessen werden (im Gegensatz zu "koscher")

Aufgabe:
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"Der siebente Brunnen" ist eine Verszeile aus dem Gedicht "Die sieben Brunnenkränze" des Prager Kabbalisten Rabbi Jehuda Löw aus dem 16. Jahrhundert.


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